High Need Baby – unnötige Etikettierung oder Erleichterung für Betroffene?

High Need Baby
Foto des Autors

Nele Hillebrandt

Zuletzt aktualisiert:

Dieser Artikel enthält Affiliate-Links. Wenn du auf solche Links klickst und etwas kaufst, bekommen wir eine Provision. Alle Affiliate-Links sind mit einem Sternchen (*) markiert.

Ein High Need Baby ist laut dem Ehepaar Sears ein Baby, das besonders viel Aufmerksamkeit benötigt und Eltern vor besondere Herausforderungen stellt. In diesem Artikel erfährst du mehr über das Konzept High Need Baby und die Frage, ob dieses Konstrukt sinnvoll ist.

1. Was ist eigentlich ein High Need Baby?

Das Konstrukt High Need Baby wurde von Dr. Sears (Professor für Kinderheilkunde) und seiner Frau (Hebamme) ins Leben gerufen, nachdem deren viertes Kind ein völlig anderes Verhalten zeigte als seine Geschwister und seine Eltern dadurch an ihre Grenzen brachte. Frau Sears gibt dabei selber zu, dass sie vorher den Frauen, die ihr erzählten, dass ihre Babys besondere Aufmerksamkeit benötigten keinen Glauben geschenkt hatte.

Nach langem Beobachten ihres eigenen Kinder, sowie der Kinder anderer, entwarfen die Sears ein Konstrukt mit 12 Dimensionen, die High Need Babys beschreiben.

1.1 Die 12 Dimensionen von High Need

  1. „Intense“: intensiv (anstrengend)
    Babys mit dieser Eigenschaft erscheinen zunächst einmal besonders anstrengend: sie tun ihre Bedürfnisse lauthals kund, neigen dazu sich „einzuschreien“, sind dazu oft noch besonders laut und lassen sich nur schwer wieder beruhigen. Eltern merken schnell, dass es leichter ist, wenn sie die Bedürfnisse ihres Babys erfüllen, bevor diese dringend werden. Auch das Stillen und Füttern wirkt oft krampfhaft oder kampfartig und das Baby wirkt generell verspannt, überstreckt sich und ballt die Hände zu Fäusten.

    Intensive Babys werden oft auch zu intensiven Kleinkindern, die sich kaum stoppen lassen und einen unendlichen Bewegungs- und / oder Entdeckungsdrang haben. Eltern tuen in diesem Alter gut daran, ihre Wohnung so kindersicher wie möglich zu machen, da diese Kleinkinder dazu neigen erst zu handeln und dann zu denken.

    All dies scheint zunächst (vor allem für betroffene Eltern) nicht besonders positiv. Die Sears geben jedoch zu bedenken, dass genau diese Eigenschaft dazu führen kann, dass ein Kind seine Umwelt besonders intensiv erkundet und entdeckt und dadurch eine ganz besondere Kreativität entwickeln kann. Außerdem sind nicht nur negative Emotionen bei diesen Kindern besonders ausgeprägt und mitreißend, sondern auch die positiven. Die Aufgabe der Eltern sollte darin bestehen, die Energie des Kindes in Bahnen zu lenken, in denen das Kind wachsen kann.
  2.  

  3. „Hyperactive“: hyperaktiv
    High Need Babys scheinen immer in Bewegung zu sein (bzw. es zu wollen). Hand in Hand damit einher geht, dass sie oft auch einen hohen Muskeltonus haben und somit immer angespannt sind (hyperton). Viele Babys finden in Berührung, Tragen und Liebkosungen der Eltern entspannung aber lange nicht alle.

    Hyperaktiv ist dabei nicht negativ zu bewerten. Bedenken sollte man immer, dass „hyper“ immer nur relativ ist: ein Kind ist „mehr“ („über“) als das andere. Es soll keine Beurteilung des Verhaltens sein, sondern lediglich eine Beschreibung. Hyperaktivität kann zudem dazu führen, dass ein Kind auch Hyperproduktiv ist oder in bestimmten Bereichen sehr schnelle Entwicklungsfortschritte zeigt.
  4.  

  5. „Draining“: entzieht Energie
    Eltern von High Need Babys fühlen sich oft, als würde das Baby ihnen alle Energie entziehen. Sie sind übermüdet, schlapp und kraftlos. Doch diese Energie geht nicht verloren, sondern direkt auf das Baby über. Alles, was wir an Energie abgeben, hilft unserem Baby zu wachsen, zu lernen und sich zu entwickeln. Das ständige Tragen, Schaukeln, Beruhigen, Füttern, Kuscheln und Bestärken kostet uns viel Kraft, die aber direkt unserem Baby zugute kommt.

    Mütter (und Väter) sollten dabei versuchen die Situation einfach anzunehmen und sich selbst zugestehen, dass sie eben nicht noch tausend andere Dinge schaffen können. Der Haushalt kann warten, das Baby nicht.

    Babys bedienen sich dabei an den Energiereserven ihrer Eltern, ohne sich Gedanken darum zu machen, dass für diese nichts mehr übrig bleibt. Für Eltern ist das sehr anstrengend und fast alle erreichen irgendwann einen Punkt, an dem sie denken, dass sie nicht mehr können. Und auf zauberhafte Weise ist an gerade diesem Tag das Baby etwas weniger fordernd. Einfach wird es bestimmt nicht, aber es wir immer Tage geben, an denen es einfacher ist.
  6.  

  7. „Feeds Frequently“: will ständig gefüttert werden
    Hight Need Babys haben ein großes Saugbedürfnis. Dieses lässt sich am besten an Mamas Brust stillen, da man dort auch noch kuscheln kann und Mama ganz nah ist. Die Forschung zeigt, dass Babys, die oft (und dafür kurz) gestillt werden, weniger schreien als solche, die längere Zeit auf die nächste Mahlzeit warten müssen. In einigen Kulturen stillen Frauen 20 Mal am Tag, was jedoch dadurch erleichtert wird, dass diese Frauen ihre Babys meist nah am Körper tragen. Um Übergewicht muss man sich dabei keine Sorgen machen: Beim Stillen trinken Babys zunächst die fettarme Vormilch und erst nach einiger Zeit die kalorienreiche Hintermilch. Stillbabys sehen dennoch manchmal aus wie kleine Sumoringer, doch mit dem Krabbeln verlieren sie ihre überschüssigen Pfunde meist sehr schnell.

    Die Sears gehen davon aus, dass es die bessere Option ist ein High Need Baby zu stillen, da das Fläschchen nicht so beruhigend wirkt und die enthaltene Milch deutlich mehr Kalorien enthält. Stillen sollten Mütter am besten nach Bedarf, da High Need Babys mit festen Zeiten oft nicht zurecht kommen. Auch das Abstillen wird bei High Need Babys wahrscheinlich schwieriger werden, da diese Kinder sich nur schwer beruhigen können und wenn sie eine Beruhigungsmethode gefunden haben (wie das Stillen), geben sie diese nur ungern auf.
  8.  

  9. „Demanding“: Fordernd
    High Need Babys kommunizieren ihre Bedürfnisse deutlich und laut. Sie schreien besonders intensiv, lassen sich nur beruhigen, wenn das Bedürfnis tatsächlich korrekt erfüllt wurde und das möglichst schnell. Was für Eltern sehr anstrengend sein kann und ihnen manchmal das Gefühl vermittelt, dass sie durch das Baby fremdgesteuert sind, führt jedoch auch dazu, dass Eltern besonders gut lernen ihr Baby einzuschätzen und seine Bedürfnisse schnell zu erfüllen.

    Wenn ein Kind sich sicher aufgehoben fühlt, kann es irgendwann lernen seine Bedürfnisse auf eine sozial verträglichere Weise zu kommunizieren. Gleichzeitig können Eltern diesen Kindern dabei helfen zu Erwachsenen zu werden, die zielstrebig für ihre Bedürfnisse und Rechte kämpfen.

    Fordernde Babys werden oft zu fordernden Kindern, die nicht nur Eltern, sondern auch Lehrern einiges abverlangen. Dafür sorgen diese Kinder so selber dafür, dass sie alles bekommen, was sie benötigen um ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterzuentwickeln.
  10.  

  11. „Awakens frequetly“: wacht ständig auf
    High Need Babys scheinen von allem mehr zu brauchen – außer vom Schlaf. Im Gegensatz zu ihren Eltern. Der beste Weg damit umzugehen, ist, laut den Sears, dem Baby eine Umwelt zu bieten, in der es sicher und geborgen schlafen kann und es gleichzeitig hinzunehmen, wenn das Baby dies nicht tut. Ein Baby zum Schlafen zu zwingen ist unmöglich und wird nur dazu führen, dass sowohl das Baby, als auch die Eltern frustriert werden.
  12.  

  13. „Unsatisfied“: unzufrieden
    High Need Babys lassen sich manchmal einfach nicht zufrieden stellen. Für Eltern ist das sehr frustrierend und führt schnell dazu, dass diese an den eigenen Fähigkeiten zweifeln. Ein glückliches, zufriedenes Baby gilt in unserer Gesellschaft als Beleg für die Fähigkeiten der Eltern, das ist aber schlicht falsch. Eltern können zwar alles versuchen, am Ende ist es aber vom Baby abhängig, was dieses annehmen kann. Trotzdem sollten Eltern weiterhin versuchen ihr Baby zu beruhigen und wenn man dann endlich eine Methode gefunden hat, die Hilft, dann kann man wirklich stolz auf sich sein. Dass Morgen alles schon wieder anders ist, darüber kann man sich morgen Gedanken machen.
  14.  

  15. „Unpredictable“: unvorhersehbar und unberechenbar
    Heute hüh und morgen hott. Was heute das Baby wunderbar beruhigte, sorgt morgen für noch mehr Tränen und Geschrei. Mit High Need Babys haben Eltern manchmal das Gefühl jeden Tag von neuem ein Rätselspiel zu spielen, dessen Lösung jeden Tag anders aussieht.

    Auch was die Stimmungen angeht, sind diese Babys unvorhersehbar. Plötzliche Stimmungsumschwünge sind an der Tagesordnung. Dabei überwiegen die Extreme: Das Baby ist entweder extrem fröhlich und steckt alle mit seinem Lachen an oder extrem wütend und überträgt diese negativen Gefühle ebenso auf alle anderen.

    Das tägliche Leben wird dadurch nicht leicht. Mal macht das Baby alles lachend mit und am nächsten Tag wird der Einkauf zum Horrortrip. Eltern bleibt nur sich so weit es geht auf das Baby einzustellen und mit diesen Ups and Downs zu leben.
  16.  

  17. „Super-Sensitive“: super sensibel
    High Need Babys reagieren super sensibel auf Geräusche, Veränderungen und Stimmungen. Am wohlsten fühlen sie sich in einer vertrauten Umgebung mit ihren Bezugspersonen. Wenn sie schlafen, werden sie schnell durch Geräusche wach und das Baby mal für einen Tag an jemanden abzugeben ist undenkbar. Auch auf körperliche Schmerzen reagieren diese Babys extrem und lassen uns Erwachsene das deutlich hören. Eltern können sich somit zumindest sicher sein, dass diese Babys stets deutlich machen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

    Wenn diese Babys älter werden, sind sie oft besonders empfänglich für die Gefühle und Gedanken anderer, entwickeln ein ausgeprägtes Empathie-Verhalten und sind besonders aufmerksam. Wenn wir sie in ihrer Entwicklung gut unterstützen, werden diese Kinder als Erwachsene tief gehende Beziehungen eingehen können und ein erfüllendes Sozialleben erfahren.
  18.  

  19. „Can’t put baby down“: lässt sich nicht ablegen
    Kuscheln, Tragen, Schaukeln und am besten den ganzen Tag auf Mamas oder Papas Arm. High Need Babys brauchen besonders viel Körperkontakt und lassen sich nur unter Protest ablegen. Am besten ist es, wenn der Träger dabei ständig in Bewegung ist, Stillstand finden die meisten High Need Babys eher beunruhigend.

    Manche Babys tun sich anfangs mit dem Körperkontakt schwer, dies liegt oft daran, dass sie so sensibel sind und die Berührungen sie beunruhigen. Eltern sollten dies nicht persönlich nehmen, auf ihr Kind eingehen und ihm das geben, was es braucht. Das Bedürfnis nach viel Nähe entwickelt sich dabei oft, wenn das Kind sich etwas sicherer fühlt.
  20.  

  21. „Not a self-soother“: beruhigt sich nicht selbst
    Wer meinte, ein Baby würde sich mithilfe eine Schnullers, einer Spieluhr oder einer Wippe selbst beruhigen, der wird durch High Need Babys eines besseren belehrt. Dies Babys brauchen Mama und Papa um sich zu beruhigen und die Reize der Umwelt, die täglich auf sie einstürmen, verarbeiten zu können. Alleine einzuschlafen ist für diese Babys sehr schwer und sie brauchen dazu viel Hilfe von den Eltern. Sich selbst in den Schlaf zu weinen, ist dabei keine adäquate Strategie um dem Kind beizubringen sich selbst zu entspannen.
     
    Bei jungen Babys ist es dabei das beste auf die Bedürfnisse so weit wie möglich einzugehen. Erst nach einigen wichtigen Entwicklungsschritten wird das Kind dazu in der Lage sein, durch Lernprozesse sein Verhalten anzupassen. Je älter das Kind wird, desto mehr sollten Eltern versuchen dem Kind adäquate Strategien beizubringen, um sich selbst zu helfen: Egal ob das ein Kuscheltier ist, das Geborgenheit vermitteln kann oder ein Einschlafritual, wichtig ist, das Eltern das Kind darin unterstützen im eigenen Tempo immer selbstständiger zu werden.
  22.  

  23. „Separation sensitive“: reagiert sensibel auf Trennung
    High Need Babys lassen sich nicht einfach an einen anderen abgeben. Sie brauchen am Anfang vor allem ihre Mama und tun dies lautstark kund. Fremden gegenüber werden sie nur zögerlich warm und auf den Arm nehmen dürfen sie nur ausgewählte Personen.

    Auch wenn uns Eltern dieses Verhalten manchmal anstrengt, aus Sicht des Babys ist es völlig logisch. Für das Baby ist die Mama ein Teil des eigenen Selbsts, ein Teil, den man zum Überleben benötigt. Die Sears haben Mütter beobachtet, die ihre Babys viel getragen, nach Bedarf gestillt und oft auch mit ihnen in einem Bett geschlafen haben und diese Mütter entwickelten Trennungsängste bezüglich ihres Babys. Wenn schon Mütter diese Gefühle zeigen, dann sind sie wohl völlig normal für die kleinen Wesen, die ohne ihre Mütter nicht wären.

    Mit der Zeit erweitert sich der Kreis, der Personen, zu denen das Baby Vertrauen fasst, trotzdem dauert es lange, bis es Vertrauen zu Unbekannten fasst. Trennungsängste können dabei bis ins Kindesalter sehr intensiv sein und für Konflikte sorgen. Auf der anderen Seite zeigt dieses Verhalten aber auch, dass die Kinder sehr intensive emotionale Bindungen aufbauen.

1.2 Anmerkungen zu diesem Konzept

Auf der Homepage askdrsears wird im Rahmen der Vorstellung des Konzepts darauf hingewiesen, dass jedes Baby wahrscheinlich einige dieser Eigenschaften besitzt. Jedes Baby ist somit ein bisschen High Need und zudem haben auch Babys bessere und schlechtere Tage. Den Sears geht es dabei nicht darum Babys abzustempeln oder ihnen ein Label zu verpassen, sondern darum ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass verschiedene Babys in unterschiedlichen Bereichen mehr Aufmerksamkeit brauchen und fordernder sind.

Sie sagen zudem, dass sie diese Eigenschaften nicht wertend meinen, sondern lediglich beschreibend. Jede dieser Eigenschaften birgt dabei sowohl Herausforderungen als auch Potenzial mit sich. Das Ziel sollte sein, sein Kind mithilfe dieses Konstruktes besser einschätzen zu können und ihm dabei zu helfen sein Potenzial zu entfalten und Schwierigkeiten irgendwann allein meistern zu können.

Ich finde, dass dies ein wundervoller Ansatz ist, da es tatsächlich äußerst wichtig ist Kindern Methoden beizubringen, mit ihren Schwächen umzugehen und ihre Stärken zu nutzen. Um das leisten zu können, ist es natürlich unumgänglich, dass Eltern zunächst die Stärken und Schwächen ihrer Kinder erkennen.

2. Wir haben ein High Need Baby!

Seit ich Mama bin, frage ich mich schon öfters mal, ob ich nicht etwas falsch mache. In Gesprächen mit anderen Mamas fühle ich mich nicht selten unzulänglich. Während andere mit ihrem Baby allein Zuhause sind und den Haushalt spielend im Griff haben, nebenbei kochen, backen und natürlich genug schlafen, bin ich froh, wenn ich mal 10 Minuten für mich habe um in Ruhe zu duschen. Und das obwohl Finn den ganzen Tag hier ist.

Unser Babyjunge ist ein unglaublich tolles Kind und wir lieben ihn über alles. Er ist aber auch manchmal ganz schön anstrengend. Er lässt sich keine Minute ablegen, schläft grundsätzlich nur, wenn einer von uns daneben liegt, würde am liebsten den ganzen Tag an der Brust nuckeln und lässt sich von niemandem außer uns Eltern auf den Arm nehmen. Vor allem Abends braucht er seine Mama und dann kann nicht einmal Papa ihn beruhigen. Unterwegs ist es egal ob er mollig im Tuch mit mir kuscheln kann oder im Kinderwagen liegt und sanft durchgeruckelt wird, er schreit oft bis er einschläft. Ach ja, einschlafen läuft hier sowieso selten friedlich ab, man hat eher den Eindruck, Schlaf wäre die reinste Folter für den Kleinen. Schreiend einschlafen und dann mit dem ersten Blinzeln weiter schreien? Hier keine Seltenheit.

3. Brauchen schon Babys solch einen „Stempel“?

Dass unser Babyjunge ein High Need Baby ist, habe ich heute eher durch Zufall erfahren. Bei Facebook las ich einen Artikel, der kritisiert, dass Babys diesen Stempel bekommen, dort wurde die Frage aufgeworfen, was es den Betroffenen bringt und ob es nicht den Babys schaden würde.

Ich habe mich dann recht lange mit dem Thema auseinander gesetzt und mich dabei selber gefragt, ob es mir etwas bringt, wenn ich nun weiß, dass mein Baby ein High Need Baby ist.

3.1 Die Intention der Sears

Wer sich die Website von Dr. und Frau Sears anschaut, der gelangt schnell zu der Erkenntnis, dass dieses Konzept gar nicht so negativ aufzufassen ist, wie es sich vielleicht zunächst anhört. High Need klingt in unseren Ohren vielleicht erst mal sehr negativ und nach „Problemkind“, wenn man sich das alles aber in Ruhe durchliest erkennt man schnell, das High Need zwar für Eltern extrem anstrengend ist, darin aber gleichzeitig auch wahnsinnig viele Ressourcen stecken.

Wenn man sich bewusst macht, warum das eigene Kind diese Verhaltensweisen zeigt, dann ist es nicht mehr weit dahin dies positiv zu nutzen. Sein Kind darin zu unterstützen sich gut zu entwickeln und bestimmte Eigenschaften dabei sogar zu fordern, anstatt sie dem Kind abzugewöhnen. Somit denke ich, dass ein Bewusstsein dafür, dass das eigene Baby ein High Need Baby ist, dazu führen kann, dass man besser mit seinem Baby umgeht.

3.2 Ein Name macht es greifbar und real

Außerdem muss ich ganz klar sagen: Es ist so erleichternd zu wissen, dass ich mir nicht alles nur einbilde und mich anstelle!

Das hört sich jetzt vielleicht erstmal komisch an, aber wenn man als Mama merkt, dass alle anderen viel besser mit ihren Kindern klarkommen und nebenbei viel mehr schaffen, dann zweifelt man einfach an seinen eigenen Fähigkeiten. Man denkt, dass man selber irgendwie versagt. Dass einfach die Babys unterschiedliche Temperamente haben und sich sehr unterschiedlich verhalten, daran habe ich tatsächlich kaum gedacht.

Es liegt nicht immer alles an den Fähigkeiten der Mama (oder des Papas), sondern auch am Temperament des Kindes.

Mir persönlich geht es gar nicht darum, nun einen Begriff für das Verhalten meines Babys zu haben, sondern viel mehr darum zu wissen, dass es noch mehr Babys gibt, die fordernder sind. Dass es nicht meine Unzulänglichkeit ist, dass mein Baby ständig beschäftigt werden will und unser Tag durch sein Schreien bestimmt wird.

Und ganz ehrlich? Dass mein Baby anders ist als andere, das erkennt man auch so. Meine Mama sagt immer liebevoll, dass er halt etwas ganz Besonderes ist. Und wenn wir unterwegs sind, dann merken andere schnell, dass man sich mit mir nicht wirklich unterhalten kann und in einem Restaurant etwas zu Essen zu bestellen, ist eher sinnlos da ich es wahrscheinlich (wenn überhaupt) kalt herunterschlingen muss. Mittlerweile haben wir uns ganz gut auf unseren Babyjungen eingestellt und wissen, was möglich ist und womit wir lieber noch etwas warten. Dadurch ist unser Alltag sehr entspannt geworden und der Babyjunge ebenfalls. Trotzdem hat mir das Konzept der Sears in mancherlei Hinsicht die Augen geöffnet und mir ist bewusste geworden, dass viele der Verhaltensweisen, die ich manchmal als sehr anstrengend empfinde auch durchaus ihre positiven Seiten haben, die ich nutzen und fördern kann.

Zudem habe ich nun ein weiteres Puzzle-Teil gefunden um zu erklären, warum unser Wochenbett so wahnsinnig anstrengend und alles andere als schön war. Außerdem glaube ich, dass es sehr wichtig ist die Schwächen seiner Kinder zu kennen. Denn wenn wir unsere Schwächen kennen, können wir diese sogar zu einem Vorteil machen. Wie erfährst du im Abschnitt „High Need als Chance“ weiter unten.

3.3 High Need als Stigmata

Im Psychologie-Studium haben wir viel darüber gesprochen, dass Diagnosen auch Stigmata sein können. Dass man darum sehr vorsichtig mit sowas sein soll. Trotzdem gibt es sie. Denn auf der anderen Seite hat man nun endlich eine Erklärung für ein Verhalten, das in irgendeiner Form von der Norm abweicht. Man weiß nun, woran man ist und oft geht damit auch einher, dass sich endlich Lösungswege zeigen.

High Need ist keine Diagnose.
Es ist ein Konstrukt, das auf der Beobachtung von Babys beruht. Es sagt nicht, dass ein Baby krank oder gestört ist, hilft nicht ein geeignetes Medikament zu finden und ermöglicht Betroffenen nicht eine besondere Therapie aufzusuchen. Es beschreibt lediglich Verhaltensweisen, die zusammen dafür sorgen, dass ein Baby besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge von seinen Eltern fordert.

Die entscheidende Frage ist doch nun, was Eltern mit dem neuen Wissen anfangen. Wenn sie wissen, dass ihr Baby ein High Need Baby ist, werden sie dann vielleicht gelassener? Setzen sich weniger unter Druck und können im Wettstreit um die perfekte Mutter etwas entspannter sein? Wenn man diese Fragen mit ja beantworten kann, dann denke ich, dass das Konstrukt High Need Baby dem Kind eher hilft. Denn erinnern wir uns nochmal: entspanntere, glücklichere Eltern – entspannteres, glücklicheres Kind (soweit sich das eben beeinflusst).

Vielleicht sehen Eltern ja sogar, dass ihr Baby in einigen Bereichen High Need ist und in anderen gar nicht? Oder sie erkennen, dass ihr Baby tolle Ressourcen hat, die man als Eltern gezielt nutzen und fördern kann, so wie die Sears es selber beschreiben. Unser Babyjunge hat zum Beispiel einen wahnsinnigen Bewegungsdrang und trainiert jeden Tag super ausdauernd seine ganzen Muskeln. Wir müssen dabei zwar immer an seiner Seite sein und stets schauen, wann wir eingreifen müssen, damit er nicht zu frustriert wird (das endet immer in lautem Geschrei) aber ich hoffe, dass wir ihm dabei helfen können diese Ausdauer und Motivation zu behalten.

Auf der anderen Seite würde es dem Baby tatsächlich schaden, wenn bestimmte Erwartungshaltungen der Umwelt nun dafür sorgen, dass dieses sich tatsächlich mehr und mehr so verhält. Implizite, also unbewusste, Erwartungen beeinflussen das Verhalten unseres Gegenübers mehr als wir uns manchmal vorstellen können (siehe zum Beispiel der Rosenthaleffekt). Wenn ich nun von meinem Baby erwarte, dass es ständig weint, sich nicht ablegen lässt und besonders viel Aufmerksamkeit benötigt, dann kann es sein, dass mein Baby diese Verhaltensweisen mit der Zeit immer mehr zeigt, weil ich es unbewusst dahingehend beeinflusse. Allerdings lässt sich hier kritisch anmerken, dass ich mein Baby dazu nicht einmal als High Need Baby bezeichnen muss, es reicht, wenn ich denke, dass mein Baby sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält.

Um es zusammengefasst auf den Punkt zu bringen: Zu wissen, dass man selber ein High Need Baby hat, kann Eltern meiner Meinung nach durchaus helfen. Man sollte aber nicht vergessen, dass Kinder sich im Laufe ihrer Entwicklung sehr stark verändern können und somit immer wieder kritisch hinterfragen, ob diese Beschreibung noch auf das eigene Kind zutrifft und hilfreich ist oder gar einer (Weiter-) Entwicklung im Wege steht.

4. High Need als Chance

Und, ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und würde behaupten, dass es sogar für unsere Kinder von Vorteil sein kann, wenn wir sie als High-Need-Kind erkennen.

4.1 Stärken und Schwächen

Natürlich sollten wir den Blick auf Stärken und Kompetenzen richten (ressourcenorientiert erziehen) aber wir werden unseren Kindern nicht gerecht, wenn wir ihre Schwächen einfach ausblenden.

Wir alle haben unsere Schattenseiten. Unsere Kinder auch. Ich finde es unheimlich wichtig diese zu kennen. Denn nur dann kann ich meinem Kind dabei helfen, mit diesen zu leben und sie zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Unser Sohn ist ein High-Need-Baby. Dabei geht es mir überhaupt nicht darum endlich einen Stempel zu finden und mich nun entspannt zurück zu lehnen. Ich erzähle es im Alltag auch nicht lauthals herum. Mit anderen Mamas (oder Papas und anderen Personen) rede ich darüber gar nicht. Denn in den allermeisten Situationen ist es gar nicht relevant.

Für mich ist das wichtig, weil ich dadurch weiß, dass dieses Verhalten tatsächlich etwas von der Norm abweicht. Ich kann ihn gezielt beobachten und schauen, wie er sich in bestimmten Situationen verhält und diese Beobachtungen sinnvoll interpretieren.

4.2 Warum das wichtig ist?

Weil ich der Meinung bin, dass unsere Aufgabe als Eltern hauptsächlich darin besteht unseren Kindern Werkzeuge an die Hand zu geben. Werkzeuge, die sie später befähigen SELBST für sich zu sorgen. Nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch in jedem anderen. Ich möchte, dass mein Kind später glücklich ist. Nicht, weil er ein tolles Haus, Auto oder eine schöne Freundin hat. Sondern aus sich selbst heraus.

Wer sein Glück von äußeren Umständen abhängig macht, wird nie mals frei sein.

Ich bin davon überzeugt, dass Zufriedenheit vor allem daraus entsteht, dass man mit sich selbst im Reinen ist. Dass man weiß, wer man ist. Mit allen Stärken und Schwächen. Dass man sowohl seine Stärken, als auch seine Schwächen für sich einsetzen und nutzen kann.

Das hört sich leicht an. Und ist so unendlich schwer.

Ich (und Finn ebenso!) will meinem Sohn dabei helfen so gut ich kann. Für mich bedeutet das, dass ich seine Schwächen genauso kenne wie seine Stärken. Solange er klein ist bedeutet es vor allem, dass ich ihn auffange. Ihm helfe Vertrauen aufzubauen. Vertrauen, dass jemand da ist, egal wie er sich benimmt. Egal, was er tut.

Außerdem sehe ich schon jetzt, welche positiven Konsequenzen seine „schwierigen“ Verhaltensweisen haben. Ja, er weint viel und ist sehr oft unzufrieden. Das ist vor allem für uns Eltern wahnsinnig anstrengend. Aber weißt du was? Dafür kann er mit neun Monaten an Gegenständen entlang laufen. Er zieht sich überall hoch und steht schon allein.

Er hat so einen unheimlich starken Antrieb. Er WILL. Das finde ich toll! Mir ist dabei nicht mal wichtig, was er am Ende tatsächlich erreicht, sondern dass er sich so anstrengt. Das finde ich einfach bewundernswert.

Auch dass er abends sehr an mir hängt und ich meinen Blick nicht abwenden darf, zeigt mir etwas Wundervolles: Er baut tiefe Verbindungen auf. Er liebt. Und alles, was ich mir wünsche ist, dass er diese Fähigkeit behält.

Für fast jedes anstrengende Verhalten lässt sich eine Situation finden, in der dieses Verhalten vorteilhaft ist. Wir müssen nur genau hinschauen. Unser Kind beobachten und davon wegkommen Verhalten oberflächlich in gut oder schlecht einzuteilen. Denn letztendlich ist die Bewertung immer auch von der Situation abhängig. Auch ein eigentlich „gutes“ Verhalten kann in bestimmten Situationen schlecht sein.

5. Gesellschaftliche Normen

High Need ist für mich nichts Negatives. Es ist einfach eine Sammlung bestimmter Verhaltensweisen. Verhaltensweisen, die es Eltern manchmal schwer machen und sie besonders fordern. Negativ ist es nur, weil es von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Das wiederum spielt leider eine Rolle, weil wir in dieser Gesellschaft funktionieren müssen.

Mein Baby kann ich davor noch weitestgehend schützen und in unserem familiären Rahmen so auf ihn eingehen, wie er es braucht. Aber er wird größer und irgendwann werden die Ansprüche, die andere an ihn stellen, wachsen. Irgendwann wird er in einem Kindergarten oder spätestens in einer Schule allein – ohne mich – klar kommen müssen.

Bis dahin habe ich zum Glück noch eine Menge Zeit. Diese Zeit will ich nicht dafür nutzen hier „perfekte Welt“ zu spielen. Ich will sie nutzen, um mein Kind so gut wie möglich kennen zu lernen. Mit allen Facetten. Ohne Wertung. Ich will ihm helfen groß und stark zu werden. Er selbst zu werden.

Selbstreflexion ist eine der Königsdisziplinen. Und ich bin mir ehrlich nicht sicher, in wie weit Kinder dies erlernen und für sich nutzen können. Aber ich werde meinem Sohn alle Werkzeuge schon von klein auf an die Hand geben.

Wir sollten aufhören Verhalten nur in „negativ“ und „positiv“ einzuteilen, sondern sehen, dass die Bewertung immer auch situationsabhängig ist (okay, nicht immer, aber zumindest oft). Dann können wir vielleicht anfangen unsere Kinder in ihrer Gesamtheit zu sehen ohne dabei Angst haben zu müssen, dass ihre Schwächen die Stärken überdecken.

6. Ein kurzes Wort zur „Inklusion“

Das ist es auch, was mich an dem Konzept der „Inklusion“, wie es momentan beworben wird, stört: Hier wird versucht alle Kinder in die gleiche Form zu pressen. Das klappt schon bei den gesunden Kindern nicht immer, bei denen, die körperlich oder geistig etwas weiter von der Norm entfernt sind, ist das aber einfach grausam.

Wenn wir einfach übergehen, dass ein Kind gewisse Schwächen hat und wir es nur um der Teilhabe willen in Regelschulen schicken, in denen es einfach nicht zurecht kommen kann, dann tun wir weder diesem Kind einen Gefallen, noch den anderen Kindern in der Klasse oder den Lehrern. Und am Ende ist doch allen klar, dass es hier nicht wirklich um Teilhabe geht, sondern vor allem darum, Geld zu sparen. Dies aber mit dem Vorwand, man wolle ja den Kinder helfen ihre Schwächen zu überdecken, ist einfach nur heuchlerisch.

Wieso können wir den Unterschieden nicht Rechnung tragen und akzeptieren, dass Menschen verschiedene Voraussetzungen haben? Und das nicht nur im Positiven, sondern eben auch im Negativen?

Im übrigen kann und möchte ich dieses Thema hier nur „anreißen“, wenn ihr mehr darüber wissen wollt, dann schaut doch mal bei 2kindchaos vorbei, dort steht das Thema High Need Babys und Kinder im Vordergrund!

🤩 Das könnte dich auch interessieren...

Schöne Jungennamen

300+ schöne Jungennamen